Rezension: Die Humanisierung der Organisation. Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert

Rezension: Die Humanisierung der Organisation. Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert

Rezension: Kai Matthiesen, Judith Muster, Peter Laudenbach: Die Humanisierung der Organisation. Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert, Verlag Franz Vahlen, München (2022), S. 254, 24,90 €

Die These, dass Arbeit zu humanisieren ist, kennt die kundige Leser:in bereits aus dem Bereich der Organisationsentwicklung. Doch dieser Ansatz stammt von Niklas Luhmann und ist dementsprechend eher in der systemischen Organisationsberatung zu verorten und darum auch anders zu verstehen.

Die o.g. Autoren stammen aus der Organisationsoziologie und der Organisationsberatung und deuten ihre Beratungserfahrung mit Begriffen und Theoriefiguren des Soziologen Niklas Luhmann: Funktion und Folgen formaler Organisation von 1964. Daraus ist ein erfahrungsgesättigtes Buch entstanden, Spielarten aufzuzeigen, an welchen Stellen Menschen in der Organisation unliebsame Übergriffe durch die Organisation erfahren.

Der Ansatz der Überlegungen ist die Unterscheidung zwischen dem ganzen Menschen und den Organisationsmitgliedern. Denn Organisationen kaufen Organisationsmitglieder für bestimmte Funktionen ein und eben nicht den „ganzen“ Menschen mit seiner individuellen Biografie, seinen Hobbys und privaten Einstellungen. Organisationsmitglieder übernehmen gegen Vergütung dann bestimmte definierte Organisationrollen und handeln im Rahmen bestimmter Verhaltenserwartungen und formaler Regeln der Organisation. „Wer als Mitglied einer Organisation handelt, handelt nicht als Privatperson.“ (26) Nichts davon ist persönlich gemeint und muss auch nicht so verstanden werden. Denn Organisationsmitglieder müssen austauschbar bleiben.

So entsteht für beiden Seite eine große Freiheit und eine Professionalität des Handelns entsteht.
Das Buch hätte man nicht schreiben müssen, wenn es nicht zu Verwechselungen kommt zwischen den Rollen und Funktionen unterschiedlicher Systeme, den Problemverschiebungen von der Organisationsstruktur in Richtung personaler Ebene, oder zu einem ungünstigen Wechselspiel von formaler und informeller Ebene.

Die Stärke des Buches liegt in den Fallbeschreibungen, die einen als Leser:in erahnen lassen, das könnte meine Firma oder meine Organisation sein. Gemeindeberater:innen werden im Speziellen vielleicht denken, dass Kirche manchmal auch als eine vormoderne totale Organisation (Erving Goffmann) daherkommt und darum anfällig ist, Grenzen zu verwischen und zu viel von ihren Funktionsträgern zu erwarten. Speziell Theologen hören aus weiter Ferne noch aus dem Proseminar zur Pastoraltheologie den kommentierenden Satz herüberklingen: „Nicht das Amt trägt die Person, sondern die Person das Amt!“

Welche Problemfelder werden im Buch beleuchtet? Es werden Mechanismen aufgezeigt, bei der Organisationsprobleme in die Verantwortung der Rollenträger verschoben werden beispielsweise durch die Aufforderung, persönliche Eigenschaften an die Bedürfnisse der Organisation anzupassen, oder die Anbahnung, Beruf mit Berufung zu verwechseln oder die Aufforderung, in bestimmten Fristen, Aufgaben zu bewältigen, ohne dass die Organisation die dafür nötigen Mittel zur Verfügung stellt.

Ein Sonderfall scheinen die Familienunternehmen darzustellen, wenn sich das Familiensystem mit dem des Unternehmens überlappt. Hier ist eine Reihe von Konflikten vorprogrammiert.

Ein anderes Feld ist der Bereich der „brauchbaren Illegalität“, wie Luhmannn ihn einmal bezeichnet hat, wenn es zu einem Wechselspiel von legitimen und illegitimen Verhaltenserwartungen kommt. Es beginnt gut gemeint, dass Organisationsmitglieder unsinnige Vorschriften umgehen, um die Organisation funktionsfähig zu halten. Die Akteure werden aber möglicherweise später haftbar gemacht und die Organisation verspielt gleichzeitig oftmals leichthin ihre Steuerungsfähigkeit und den Anschluss an nötig gewordenen Entwicklungen und Modernisierung.

Weitere Themenfelder werden behandelt, die hier nicht im einzeln aufzuzählen sind.

Worin besteht nun die Humanisierung der Organisation? Luhmann würde entschieden antworten, dass in den verschiedenen Fallsituationen alle Beteiligten in der Organisation verstehen lernen, dass Menschen in der Organisation nicht als ganze Menschen mit Haut und Haar eingekauft werden, sondern sie auf ihre Organisationsrolle beschränkt werden und die Organisation alles dafür tut, dass die Klärung von Zielen, Arbeitsstrukturen, Regeln und Ressourcen etc. dazu dienen, dass die Personen sich nicht zugunsten der Organisation selbstausbeuten oder umgekehrt sich als Privatpersonen ausleben.

„Die Tatsache, dass die Organisationsmitglieder sozusagen nebenberufliche Menschen sind, hat Folgen.“ (S. 246) Sie sind nach der neueren Systemtheorie eine für die Organisation nicht vollkommen kontrollierbare „Umwelt“, zu der sich natürlich auch eine Organisation verhalten muss. Sie kann sie nicht negieren. Wenn es also nach den Autoren um die Humanisierung der Organisation geht, dann geht es um einen reflektierten und ausbalancierten Umgang mit den unterschiedlichen Funktionslogiken, Zweckwidersprüchen, lokalen Rationalitäten und einem trickreichen Zusammenspiel von Informalität und Formalität, indem die Organisation sich selbst immer wieder von neuem klärt.

Gemeindeberater:innen bekommen hier für ihre Beratungspraxis ein reiches Anschauungsmaterial, wie unterschwellige Übergriffe geschehen können, die die Beteiligten womöglich selber mit verursachen, wenn die Organisation selber nicht aktiv steuert und entscheidet.

Ernst-Eduard Lambeck