Kirche und Dialog zwischen religiöser Pluralisierung und Säkularisierung
Die Mitgliederzahlen der beiden großen Kirchen in Deutschland gehen seit Jahren in großem Maßstab zurück. Auch wenn manche derer, die den Kirchen den Rücken kehren, sich weiterhin als Christen und Christinnen verstehen, ist doch in der Gesellschaft eine zunehmende Säkularisierung erkennbar. Zugleich wundert man sich über die Vielzahl von religiösen Gemeinschaften, die mittlerweile in den deutschen Städten anzutreffen sind.
Nicht nur Islam und Judentum, sondern auch Buddhismus, Hinduismus, Bahá‘í und andere machen die religiöse Vielfalt aus. Auch innerchristlich wächst die Zahl der unterschiedlichen Gemeinden. Für die großen Kirchen, aber auch für die anderen religiösen Gemeinschaften stellt sich damit die Frage, wie der Herausforderung von religiöser Pluralisierung und zunehmender Säkularisierung begegnet werden sollte.
In einer ähnlichen Situation sehen sich die religiösen Gemeinschaften in den Ballungsgebieten Englands gegenüber. Birmingham, das Zentrum der West Midlands, ist mit mehr als einer Million Einwohner die zweitgrößte Stadt in Großbritannien und wie das Ruhrgebiet auf dem Weg, die Vergangenheit als Industrieregion hinter sich zu lassen. Zugleich gilt Birmingham als überdurchschnittlich religiöse Stadt: Mehr als 70 Prozent verstehen sich als Teil einer Glaubensgemeinschaft. Doch die Zahl der Mitglieder der Kirchen in den Midlands ist innerhalb von zehn Jahren unter 50 Prozent gesunken.
In Birmingham halten sich mittlerweile Christ*innen und Muslim*innen zahlenmäßig die Waage. Dabei ist die Verteilung sehr unterschiedlich. Im Stadtteil Small Heath, einem klassischen Arbeiterstadtteil, sind etwa 90 Prozent muslimisch. Die kleine anglikanische Gemeinde versteht sich dennoch als einladende Gemeinde, die sich der sozialen Herausforderung der Armut stellt: Unter anderem organisiert sie ein regelmäßiges Mittagessen und eine Tafel für bedürftige Menschen. Auch die in der Nachbarschaft ansässige Green Lane Moschee verteilt Lebensmittel und hat ein beeindruckendes Beratungsangebot für die Menschen vor Ort aufgebaut.
Irritierend war für die Teilnehmenden der Reise, dass die Angebote der Religionsgemeinschaften kaum aufeinander abgestimmt sind und dass die Green Lane Moschee eine gemäßigt salafistische (fundamentalistische) Einstellung vertritt. Für die meisten Teilnehmenden war hier die Grenze für eine Zusammenarbeit zwischen Religionsgemeinschaften überschritten.
Anders sieht es in Smethwick aus, einem anderen, ebenfalls eher armen Stadtteil. Anglikanische Kirchengemeinde, das muslimische Begegnungszentrum „Abrahamic Foundation“ und die Gemeinde der Sikhs, einer aus Indien stammenden Religion, die unter anderem Elemente des Hinduismus und des Islam miteinander verbindet, bieten zum einen jeweils eigene soziale Angebote an, treffen sich zum anderen regelmäßig, um sich über ihren Glauben auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen. Der Besuch des Gurudwara (Tempels) der Sikhs war für viele Teilnehmende eine erste Begegnung mit der Religion, in der das Teilen eine der drei Säulen des Glaubens ausmacht. Äußerlich erkennbar sind die männlichen Sikhs an ihrem Turban, unter dem ihr nie geschnittenes Haar verdeckt ist. Für die Sikhs gibt es wegen der religiösen Pflicht des Turbans eine Ausnahme von der staatlichen Pflicht, auf Motorrädern einen Helm zu tragen. Ebenso gibt es für sie eine Erlaubnis, ein kurzes, religiös verpflichtendes Schwert, in der Öffentlichkeit zu tragen.
Anregend für die Teilnehmenden war auch ein interreligiöses Angebot für junge Menschen in der Region Birmingham, das sich „The Feast“ – „Das Fest“ nennt: Jugendliche treffen sich regelmäßig, um miteinander Spaß zu haben und sich über ihren Glauben zu unterhalten. Wie bei einem richtigen Fest spielt auch hier das gemeinsame Essen eine große Rolle. Wichtig ist für die Initiator*innen von „The Feast“, dass es klare Regeln gibt, auf deren Grundlage man miteinander im Gespräch ist. Dazu gehört zum Beispiel, dass niemand über einen anderen Teilnehmenden negativ urteile, weil andere aus dessen Religionsgemeinschaften schlecht gehandelt haben, oder dass niemand einer*m anderen vorzuschreiben hat, was er*sie zu glauben hat.
Ähnlich eng arbeiten die unterschiedlichsten Religionen im St. Philip’s Centre in Leicester zusammen, darunter auch Hindus, Jain (s.u.) und Pagane („Heiden“), die in England als Religionsgemeinschaft anerkannt sind. Wichtig ist den Mitgliedern des St. Philip’s Centre vor allem, gegen eine weit verbreitete Unkenntnis von Religion in der Gesellschaft anzugehen und der immer wieder auftretenden Diskriminierung aus religiösen Gründen entgegenzutreten. Dazu arbeitet das Centre auch mit der staatlichen Stellen zusammen und beteiligt sich an der Aus- und Fortbildung von Polizist*innen.
Durch das Engagement einer Teilnehmerin war es der Gruppe möglich, den ersten und größten Jain-Tempel in Großbritannien zu besuchen, der sich in einer ehemaligen Kirche in Leicester befindet. Die Jains sind neben Hinduismus, Buddhismus und Sikhs eine weitere religiöse Gruppe, die ihren Ursprung im indischen Subkontinent hat. Bemerkenswert sind ihr Pazifismus und ihr Bemühen, kein Tier zu töten. Mahatma Gandhi hat sich viele seiner pazifistischen Einstellungen durch einen jainistischen Lehrer angeeignet. Die Gruppe aus Deutschland wurde im Jain-Tempel von der derzeitigen Präsidentin und ihrer Vorgängerin herzlich willkommen geheißen und in die Grundzüge der Religion eingeführt. Der Jain-Tempel in Leicester ist auch deshalb einmalig, weil in ihm die fünf Hauptrichtungen des Jainismus jeweils einen eigenen Raum haben.
Die aus NRW angereiste Gruppe beschäftigte sich auf ihrer Reise auch mit Ansätzen einer Theologie der Religionen, die davon ausgeht, dass keine der Religionen die vollkommene Kenntnis vom Göttlichen habe, sondern dass alle Religionen auf eine transzendente Wirklichkeit antworten, die meist Gott genannt wird, aber alle menschliche Auffassungsgabe übersteigt. Ein bedeutender Vertreter war der in Birmingham lehrende Theologe und Philosoph John Hick (1922 und 2012). Die Reisegruppe konnte mit Theolog*innen sprechen, die von John Hick beeinflusst worden, darunter die anglikanischen Theolog*innen Alan Race, Ruth and Richard Tetlow sowie der katholische Theologe Josef Böhle und die hinduistische Theologin Sharada Sugirtharajah.
Untergebracht war die Gruppe im Woodbrooke Center, einer Einrichtung der Society of Friends, besser bekannt unter dem Namen Quäker. Das Center war früher das Wohnhaus von Edward Cadbury, dem Gründer der Schokoladenfabrik Cadbury und selbst Quäker.